WYON

Grosse Vision von kleinen Batterien

Wyon entwickelt und produziert aufladbare Kleinstbatterien: Dank Know-how, starker Werte und einer klaren Vision hat das Unternehmen eine neue Produktkategorie geschaffen und ist damit zum Weltmarktführer geworden.

Im Alter von über 50 Jahren ein Start-up-Unternehmen zu gründen und dafür sein Privatvermögen zu riskieren – das geschieht in der Wirtschaftswelt nur selten. Noch überraschender ist es, wenn dieses Start-up bereits nach wenigen Jahren zum Weltmarktführer aufsteigt. Dabei liegt der Firmensitz an einem Ort, der beileibe nicht als Cluster für Hightech-Firmen gilt: im Kanton Appenzell Innerrhoden. In den ersten Jahren ist das Unternehmen sogar auf einer abgelegenen Alp domiziliert. Doch manchmal passiert tatsächlich das Unvorhersehbare, wie es die Geschichte von Paul J. Wyser, Gründer und heutiger Verwaltungsratspräsident der Wyon AG, belegt.

FÜR DEN TRAUM KÄMPFEN
«Als Unternehmer brauchst du eine klare Vision», lautet Paul Wysers Credo. Nur dann könne man einen eigenen Weg gehen, wie er es auch mit Wyon getan habe. Man solle nicht das tun, was andere bereits gut machen, sondern eine wirkliche Neuerung anstreben. «Wer leidenschaftlich für die Verwirklichung seines unternehmerischen Traums kämpft, gute Mitarbeiter um sich schart und stets an den Mehrwert für den Kunden denkt, der kann erfolgreich werden.» Natürlich gehören auch eine gute Portion unternehmerischen Instinkts und nicht zuletzt profunde Expertise mit dazu.
Die Gründungsgeschichte von Wyon hat viel mit der Kompetenz und den Erfahrungen von Paul Wyser als Manager in der Uhrenindustrie zu tun. 1946 im Kanton Basel-Landschaft zur Welt gekommen, absolviert Wyser eine Lehre als Maschinenzeichner beim damals auf Metalltechnik spezialisierten Unternehmen Institut Straumann. Anschliessend studiert er Maschinenbau und Elektrotechnik und stösst in den frühen 1970er-Jahren zur Renata AG, einer Produzentin von Uhrenbestandteilen in Itingen (BL). Als die preiswerten elektronischen Uhren aus Japan den Markt erobern und die mechanischen Uhrenhersteller in die Krise stürzen, reagiert die Renata AG mit einer Innovation. Sie spezialisiert sich auf die Produktion von Knopfbatterien, die von der Uhren- und Elektronikbranche stark nachgefragt werden. Bei der Renata entdeckt Paul Wyser als technischer Leiter seine Faszination für kleine Batterien. 1982 stösst die Renata AG zur späteren Swatch Group, welche aus der Fusion zweier Uhrengruppen unter der Leitung von Nicolas G. Hayek hervorgegangen ist.

FABRIK IN ITALIEN GERETTET
In jener Zeit ist Paul Wyser Mitglied der erweiterten Konzernleitung der Swatch Group. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, unrentable Zulieferbetriebe zu reorganisieren. Finanzspritzen kriegt er dafür keine, sondern muss auf Geheiss Hayeks wie ein Unternehmer agieren. Einmal verkauft er sogar einen Teil des Warenlagers, um die Löhne zahlen zu können. Solche Erfahrungen prägen Paul Wyser stark. «Ich habe mir seither immer überlegt, wie man ein Unternehmen aufbauen und führen muss, damit solche Dinge möglichst nicht passieren.» Als Paul Wyser in den späten 1980er-Jahren eine Fabrik in Italien stilllegen soll, stellt er fest, dass das Potenzial bestünde, den Betrieb wieder zum Laufen zu bringen. Auch die Firmenkultur und der Kampfeswille der Mitarbeitenden beeindrucken ihn. Er macht sich bei Hayek für den Fortbestand der Fabrik stark und erhält eine Schonfrist bis Ende Jahr. Das Vorhaben gelingt: Die Fabrik besteht heute, gut 25 Jahre später, immer noch. Und Wyser erhält jedes Jahr zu Weihnachten einen Dankeschön-Panettone von der Belegschaft.
1999, im Alter von 53 Jahren, verlässt Paul Wyser die Swatch Group und gründet ein eigenes Unternehmen. Wie er ausführt, habe die Renata AG die Produktion von Batterien für Mobiltelefone und von Autobatterien ins Auge gefasst, während er den Medizinalmarkt für aussichtsreicher gehalten habe. In der kleinräumigen und föderalistischen Schweiz habe man mehr Erfahrung mit Mikrostrukturen, ist der Unternehmer überzeugt. Trotz Meinungsverschiedenheiten ist es keine Trennung in Unfrieden, ganz im Gegenteil: Paul Wyser arbeitet auf Betreiben Hayeks noch einige Jahre lang als externer Berater für die Swatch Group. Für den dreifachen Familienvater ist dies eine wichtige finanzielle Stütze in den ersten, brotlosen Jahren als Start-up-Unternehmer.

Paul J. Wyser, VR-Präsident

START-UP AUF DER ALP
Weil Paul Wyser mit der Appenzellerin Marie-Theres Wyser-Ulmann verheiratet ist, siedelt die Familie nach Appenzell (AI) um, kauft eine Alp und baut dort ein schönes Holzhaus. Dort nimmt die Wyon-Geschichte am 27. August 1999, dem Hochzeitstag des Ehepaares, ihren Anfang. «Ohne das Commitment meines Sohnes Philipp, dem heutigen CEO, hätte ich Wyon nicht gegründet», erinnert sich Paul Wyser. Ebenso wichtig sei die Beteiligung seiner Frau gewesen: «Denn wir riskierten sehr viel, wir verliessen die Komfortzone, investierten unser Privatvermögen und wollten mit der Firma etwas auf die Beine stellen, von dem alle sagten, das könne nicht funktionieren.»
Mit dem technologischen Know-how aus seiner Zeit bei der Renata-Batterienfabrik ausgerüstet, will Paul Wyser Kleinstakkus für Geräte im Medizinalbereich produzieren und damit gesundheitlich beeinträchtigten Menschen zu mehr Lebensqualität verhelfen. Auf diesem Gebiet stösst er in Neuland vor und erkennt bei den Hörgeräten ein grosses Anwendungspotenzial. Andi Rihs, damaliger Mitinhaber und CEO des Hörgeräteherstellers Phonak, heute Sonova, ist von Wysers Vision überzeugt und unterstützt das Vorhaben. Rückblickend stellt Wyser fest: «Hayek, Rihs und ein ehemaliger Mitaktionär von Wyon haben entscheidend dazu beigetragen, dass ich gemeinsam mit meinem Sohn Philipp einen Lithium-Ionen- Akku von kleinster Bauart in einem Kunststoffgehäuse entwickeln konnte, notabene in einer Remise auf der Alp, wo es im Winter zu kalt und im Sommer zu heiss war.»

«Alle Meinungen sind gleichwertig und die Lösung wird zielgerichtet erstritten.»

Paul J. Wyser, Inhaber Wyon

BESUCH AUS AUSTRALIEN
Während der Entwicklungsphase erkennt Andi Rihs, dass die Zeit der Akkus für Hörgeräte noch nicht reif ist. Denn die Händler profitieren vom Verkauf herkömmlicher Batterien. Daher stellt Rihs einen Kontakt zum australischen Medizinaltechnikunternehmen Cochlear her, dem Weltmarktführer von Hörimplantaten. Wie Paul Wyser berichtet, suchten die Verantwortlichen von Cochlear auf der ganzen Welt nach leistungsfähigen Mikroakkus für ihre Hörsysteme. Als der Cochlear-Batteriespezialist Dirk Fiedler schliesslich von Wyon erfährt, reist er mit dem Chefeinkäufer zur Familie Wyser nach Appenzell, tief im Winter und durch hohen Schnee stapfend. Das Gespräch verläuft positiv, Paul Wyser stellt in Aussicht, dass Wyon die bisherigen drei nicht aufladbaren Knopfzellen im Gerät durch einen Akku ersetzen könne, wodurch sich dessen Volumen verringere und das Auswechseln der Knopfzellen entfalle. «So wurde Cochlear zu unserem wichtigsten Kunden und deshalb haben wir heute mit unseren Akkus für Hörimplantate einen Weltmarkanteil von rund 70 Prozent», kommentiert Paul Wyser.
Die Zusammenarbeit mit dem Grossunternehmen ermöglicht es Wyon auch, eine weltweite Zulassung für das neue Akkumodell zu erwirken. «Davon verstanden wir nichts und hätten auch keine Mittel gehabt.» Bis zur Marktreife der Akkus vergehen fünfeinhalb Jahre. In dieser umsatzlosen Zeit muss Wyon alles vorfinanzieren, besonders die Investitionen für Forschung und Produktionsmittel schlagen zu Buche. Neben dieser herausfordernden Aufgabe amtet Paul Wyser von 2000 bis 2007 als Vorsteher des Finanzdepartements von Appenzell-Innerrhoden. Dem parteilosen Säckelmeister und versierten Unternehmer gelingt es, tiefere Steuern durchzusetzen und damit die Standortbedingungen im landwirtschaftlich geprägten Kanton erheblich zu verbessern.

RECRUITING: DAS TEAM ENTSCHEIDET
Im Jahr 2005, als die Wyon-Akkus in Produktion gehen, muss Wyon die Remise auf der Alp verlassen und mietet sich in einem ehemaligen Webereigebäude beim Bahnhof Appenzell ein. Das Wyon-Team umfasst nun zehn Personen. Ohne den Goodwill und die Unterstützung von Cochlear wäre das alles nicht möglich gewesen, urteilt Wyser. «Doch der Nutzen unserer speziellen Produkte war für das globale Unternehmen so gross, dass die Bereitschaft dazu vorhanden war.» Paul Wyser achtet von Anfang an darauf, das Familienunternehmen nachhaltig aufzustellen und damit die Voraussetzungen für Innovationen zu schaffen. «Wir wollen wenig Fluktuation. Die Wyon-Mitarbeitenden müssen wissen, dass wir es ernst meinen und langfristig denken. Das ist eine Geisteshaltung, die man einprägen muss», so Paul Wyser. Wer neu eingestellt werde, müsse nicht der Geschäftsleitung passen, sondern in erster Linie dem Team. Nachhaltigkeit beim Personalwesen beginne mit der Anstellung und gehe mit einer fachbezogenen Weiterbildung der Mitarbeitenden weiter, deren Studienkosten von Wyon übernommen werden.

Die Wyon-Geschäftsleitung: Marcel Inauen, Philipp Wyser, Peter Wyser.

«BEI UNS GIBT ES KEINE RANGABZEICHEN»
Speziell an Wyon ist ausserdem, dass die Hierarchien flach sind und die Geschäftsleitung auf drei Personen verteilt ist: Philipp Wyser, Peter Wyser und Marcel Inauen. Paul Wyser konzentriert sich seit zwei Jahren auf seine Arbeit als Verwaltungsratspräsident. Von den Wyon-Mitarbeitenden wird ein kritisches Denken geradezu verlangt. «Neue Leute müssen sich zuerst an unsere Streitkultur gewöhnen. Das gehört zum Innovationsgedanken und darf nicht verwässert werden », so Paul Wyser. Selbst Vater und Sohn prallen bei der Entwicklung und Lancierung neuer Produkte öfters aneinander. «Ein Ingenieur und ein Chemiker, das verhält sich stets wie Feuer zu Wasser», fügt er schmunzelnd an. «Bei uns gibt es keine Rangabzeichen, alle Meinungen sind gleichwertig und die Lösung wird zielgerichtet erstritten», das ist typisch Wyon.
Nachhaltig sind auch die Beziehungen zu den Kunden. «Wir sind mit ihnen fast verheiratet», kommentiert Wyser. «Wir suchen einen engen Kontakt, denn nur so können wir sicher sein, dass Qualität und Service unserer Produkte stimmen.» Alle Akkus von Wyon werden am Fabrikstandort in Steinegg hergestellt, ebenso werden die wichtigsten Maschinen für die Produktion im Haus konstruiert und programmiert. Auf diese Weise behält Wyon das technologische Know-how, kann unabhängiger und längerfristig planen. Zahlreiche neue Produkte seien erst im Entstehen, doch die Maschinen und Software/Datenbank müssten frühzeitig entwickelt, gebaut oder angeschafft werden. Hier mache es wenig Sinn, einen Businessplan zu machen, viel wichtiger sei die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Partnern und der feste Wille der Mitarbeitenden, das Produkt zu lancieren.
Vor zwei Jahren ist der architektonisch ansprechende Wyon-Neubau aus dem Jahr 2013 vergrössert und auch energetisch mit Erdsonden und Solarzellen auf den neuesten Stand gebracht worden. Die Gartenanlage hat Marie-Theres Wyser-Ulmann entworfen. Mittlerweile beschäftigt Wyon 120 Mitarbeitende. Die Familie Wyser hält rund 80 Prozent der Aktien, der Rest des Kapitals ist in den Händen des Kaders. Im Unternehmen steckt kein fremdes Geld, auch keine Bankkredite. Nachholbedarf sieht Paul Wyser beim Marketing. In einer digital vernetzten Welt müssten die Werte, Leistungen und innovativen Produkte von Wyon noch stärker kommuniziert werden, merkt er an. Dieser Aufgabe widmet sich nun sein Neffe Peter Wyser. Maurus Wyser, der dritte Sohn, hat einen schweren Unfall erlitten, ist aber gleichwohl festes Mitglied im Wyon-Team. Der älteste Sohn Aurel hat die Kunstschmiede Appenzell aufgebaut und so sein Traumziel verwirklicht.

WAS GESAGT WIRD, GILT
Bei Wyon sind Innovation und Nachhaltigkeit zwingend, um auf Dauer Erfolg zu haben. In der prosperierenden Medizintechnikbranche ist die Nachfrage nach immer kleineren und leistungsfähigeren Geräten gross. Entsprechend werden auch neue Materialien und Akkus verlangt, beispielsweise für Hörimplantate, implantierte Blutzucker-Messgeräte oder bei akkubetriebenen Sendern für Magen- und Darmspiegelungen, die in Zukunft vom Patienten geschluckt werden können. Nachhaltigkeit ist vorgegeben durch das Geschäftsmodell, welches mit den Mitarbeitenden und mit den Lieferanten gepflegt wird. Und nicht zuletzt bietet Wyon den Angestellten eine langfristige Perspektive. «Wir haben eine grosse Verantwortung für die Arbeitsplätze. Wenn ich davon rede, dann müssen unsere Leute sicher sein, dass dem so ist», betont Paul Wyser. Aus der Kombination dieser Faktoren ergibt sich der Erfolg bei Wyon. Und dieser ist für Paul Wyser nicht nur in Gewinn und Umsatz zu bemessen. Erfolg bedeutet für ihn vor allem, dass die Wyon-Produkte den Kunden einen Mehrwert bieten, in der Medizintechnik sinnhaft zum Einsatz kommen und so das Leben kranker Menschen ein Stück weit einfacher machen. «Jeder Unternehmer muss seinen eigenen Weg finden», fasst Paul Wyser zusammen. «Meine Geschichte zeigt: Es lohnt sich, seine Vision unablässig zu verfolgen. Nur wer ein klares Ziel hat, wird es auch erreichen.»

Bernhard Ruetz: Innovativ. Nachhaltig. Erfolgreich. 
Zehn Schweizer Unternehmen und ihre Geschichten
Verlag Ars Biographica, Humlikon 2019. 
© Ars Biographica. Alle Rechte vorbehalten