MAN ENERGY SOLUTIONS
Die Vision: Ganze Quartiere mit regenerativer Energie versorgen
MAN Energy Solutions in Zürich will mit dezentralen Speicherlösungen die Voraussetzungen für die Energiewende schaffen.
Ingenieure sind oft pragmatische Menschen, die im Hier und Jetzt konkrete Lösungen entwickeln. Prof. Dr. Hans Gut, bis August 2019 Managing Director von MAN Energy Solutions Schweiz, hat auch noch eine andere Seite. Er denkt nicht ausschliesslich in Zahlen und Fakten, sondern ebenfalls in historischen Kategorien und Zukunftsszenarien. Deshalb beginnen seine Ausführungen über die Unternehmensstrategie von MAN ES mit einer Tour d’Horizon zur schweizerischen Industriegeschichte bis hin zu den Energieträgern der Zukunft. Hans Guts Überzeugung lautet: Wer sich mit dem Vergangenen auseinandersetzt, kann gegenwärtige Ereignisse besser verstehen und entwickelt auch ein feineres Gespür für mögliche Entwicklungen.
VOM INDUSTRIE- ZUM TECHNOLOGIEKONZERN
Hans Gut kommt 1963 in Schaffhausen zur Welt. Sein ETH-Studium schliesst er 1988 als diplomierter Werkstoffingenieur ab und promoviert in Stuttgart am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung. 1993 steigt er bei der Sulzer-Escher Wyss AG in Zürich ein und leitet während 15 Jahren die Werkstoffprüfung. Er bildet sich zum «Europäischen Schweissfachingenieur» aus und wirkt u.a. als Leiter Qualitätsmanagement, Umweltschutzbeauftragter und Leiter Innovation. Sein Arbeitgeber Sulzer, einst sechstgrösster Industriebetrieb der Schweiz, erfährt seit den 1970er-Jahren einen massiven Strukturwandel hin zum Technologiekonzern. Dabei werden viele Sparten verkauft, so auch 2000 die Produktion von Turbokompressoren an die deutsche MAN-Gruppe. «Das war ein guter Zug, denn bei Sulzer wurde seinerzeit nichts mehr investiert», kommentiert Gut. 2010 werden MAN Diesel und MAN Turbo zur MAN Diesel & Turbo zusammengelegt, das Unternehmen wird ein Jahr später zur Tochter von Volkswagen. Hans Gut leitet zunächst das Supply Chain Management, von 2014 bis 2019 ist er Geschäftsführer der MAN Diesel & Turbo Schweiz AG, die 2018 im Rahmen einer strategischen Neuausrichtung des Mutterkonzerns in MAN Energy Solutions Schweiz umfirmiert wird. Ausserdem lehrt Hans Gut seit 2008 als Professor an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften.
TRADITIONELL STARK IM ÖL- UND GASGESCHÄFT
Am Standort Zürich werden traditionell Kompressorensysteme für die Öl- und Gasindustrie entwickelt und produziert. Heute ist MAN ES der grösste private Industriebetrieb in Zürich. Die Prozesse sind weitgehend automatisiert, statt Industriearbeitern prägen Ingenieure das Bild. Lärm und Schmutz sind Vergangenheit, heute ist die Produktion sauber und nahezu lautlos geworden. Hans Gut, der sich auch im Arbeitgeberverband Swissmem engagiert, sieht in der Robotik ganz neue Chancen für den Industriestandort Schweiz: «So könnten wir ausgelagerte Arbeitsprozesse wieder zurückholen und hochqualifizierten Kräften neue Perspektiven bieten. Denn bei einem hohen Automatisierungsgrad spielt das Lohnniveau eine weniger grosse Rolle, zumal die Mitarbeitenden in der Schweiz sehr produktiv sind.» Als Produzent von Turbokompressoren nimmt MAN Energy Solutions Schweiz eine führende Position am Markt ein und hat beispielsweise mit einem Tiefseekompressor für die Öl- und Gasförderung eine bahnbrechende Innovation kreiert. Der erste dieser Kompressoren ist bereits 300 m unter dem Meeresspiegel vor der norwegischen Küste im Einsatz – und «läuft und läuft und läuft», berichtet Patrik Meli. Er hat seinerzeit den Verdichter, das Herzstück des Kompressors, als Projektdirektor mitentwickelt. Die High Tech-Lösung von MAN ES sorgt dafür, dass die Förderung fossiler Brennstoffe so effizient wie möglich stattfindet und weniger wertvolle Ressourcen verschwendet werden. Beispielsweise ist die Gasförderung direkt am Meeresgrund deutlich umweltfreundlicher als die Förderung über Bohrinseln. Gleichwohl geht es immer noch um die Gewinnung und Nutzung fossiler Brennstoffe.
Prof. Dr. Hans Gut
KNOW-HOW FÜR DIE ENERGIEWENDE NUTZEN
«Alle reden von CO2-Reduktion, andererseits wird gegenwärtig so viel Erdöl und Erdgas gefördert wie noch nie, eine Paradoxie», gibt Hans Gut zu bedenken. Seit 2018 hat sich MAN ES deshalb einen Strategiewechsel auf die Fahnen geschrieben, der auch im neuen Namen zum Ausdruck kommt: Bis 2030 sollen nachhaltige Energien zur zentralen Säule der Unternehmenstätigkeit werden. «Ich glaube an die Dekarbonisierung», so Hans Gut. Er rechnet fest mit der Energiewende und erwartet, dass sie von Westeuropa auf die übrige Welt ausstrahlen wird. Entsprechend will MAN ES ihre Kompressoren auch für die Speicherung regenerativer Energien einsetzen: «Dieses Problem ist technisch noch nicht gelöst und die Energiewende steht und fällt mit der Möglichkeit, Energie ohne grössere Verluste aufzubewahren.» Schliesslich zeichnen sich viele erneuerbare Energien – wie Wind und Sonne – dadurch aus, dass sie nicht gleichmässig verfügbar sind, sondern je nach Jahres- und Tageszeit oder Wettersituation variieren. Aktuell wird dieses Problem durch Pumpspeicherwerke gelöst. Doch solche zentralen Lösungen seien nicht optimal, urteilt Hans Gut, weil es erhebliche Energieverluste gebe, auch durch die langen Stromtransportwege per Überlandleitung.
«Ich glaube an die Dekarbonisierung.»
Hans Gut, CEO bis August 2019
EIN «KÜHLSCHRANK» IM RIESEN-FORMAT
Deutlich mehr als die Hälfte des Schweizer Stroms werde heute zum Heizen von Gebäuden verwendet – doch in Zukunft, so Hans Gut, werde insbesondere bei modernen Hochhäusern mit Glasfassaden das Kühlen wichtiger werden als das Heizen. Das Beispiel Singapur zeige, dass sich Städte mit verdichtetem Bauen deutlich stärker erwärmten als das Umland. «Deshalb liegt die Zukunft in der flexiblen Konvertierung verschiedener Energiearten, also zum Beispiel von Kraft zu Wärme oder auch zu Kälte und zurück.» Nach diesem Prinzip funktionieren bereits heute jeder Kühlschrank und jede Wärmepumpe. Hans Gut ist überzeugt: «Wir können das im grösseren Stil auf ganze Stadtteile übertragen.»
SEIT 2018 ENGAGIERT IN ETES-TECHNOLOGIE
2018 hat MAN ES gemeinsam mit ABB das neuartige Energiespeichersystem Electro-Thermal Energy Storage (ETES) vorgestellt. Dabei wird Strom, idealerweise aus erneuerbarer Energie, in Wärme und Kälte umgewandelt und gespeichert. Bei Bedarf lässt sich die gespeicherte Wärme oder Kälte innerhalb weniger Minuten wieder in Strom zurückverwandeln oder direkt an die Verbraucher verteilen. MAN Energy Solutions baut die Kompressoren für diese Lösung, ABB steuert die Elektronik bei. Im besten Fall kann dieser Energiekonverter nicht nur die Volatilität regenerativer Energien abfedern, sondern sogar von den spezifischen Nutzungsbedürfnissen verschiedener Abnehmer profitieren: Beispielsweise sei es denkbar, eine Eishalle oder ein Datencenter mit grossem Kühlungsbedarf mit einem heizintensiven Industrieunternehmen zu koppeln, zum beiderseitigen Vorteil. Innovativ an der neuen Lösung ist vor allem, dass sie die Sektoren Wärme, Kälte und Strom gemeinsam betrachtet und so für mehr Flexibilität sorgt.
Um das Potenzial des ETES-Systems auszuschöpfen, brauche es allerdings ein Umdenken, so Gut: «Wir müssen wegkommen von den grossen Kraftwerken und Hochspannungsleitungen hin zu kleineren, dezentralen Lösungen. Denn diese sind effizienter und besser geeignet für regenerative Energien.» Noch fehlt es in der Schweiz an der Risikofreudigkeit, die Anfangsinvestitionen für ein solches System zu wagen. Er sieht jedoch in Europa grosses Potenzial für diese Technologie, denn wenn allerortens die Kernkraftwerke abgestellt werden und es keine Akzeptanz für Kohlekraftwerke mehr gibt, dann entsteht ein neuer Bedarf für umweltfreundliche, dezentrale Lösungen. Entsprechend ist MAN ES auch mit Firmen in Irland und Dänemark im Gespräch.
Patrik Meli, Managing Director MAN Energy Solutions Schweiz AG.
DIE VORAUSSETZUNGEN FÜR INNOVATIONEN SCHAFFEN
Die Idee für die Riesen-Wärmepumpe, die einen ganzen Stadtteil versorgen kann, ist bei MAN Energy Solutions im Rahmen des Future Innovation-Programms entstanden: Jedes Jahr trifft sich eine Gruppe von zehn innovativen Mitarbeitenden mit frischen Gedanken und entwickelt auf Basis der aktuellen Megatrends Ideen für neue technologische Anwendungen. Im folgenden Jahr dürfen sie 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für die Umsetzung ihrer Ideen investieren. Neben dem Future Innovation-Programm setzt MAN Energy Solutions auch auf Forschungskooperationen zum Beispiel mit der ETH. Ein Industrieunternehmen, das keine Innovationen hervorbringe, verschwinde früher oder später vom Markt, urteilt Hans Gut. Aber nicht jede Neuerung sei eine Innovation, etwas grundlegend Neues. Oft würden bestehende Produkte oder Dienstleistungen einfach optimiert, was aber für einen langfristigen Erfolg kaum genüge. «Wer technologische Basisinnovationen anstossen und durchsetzen will, braucht dafür nicht nur ein profundes Fachwissen, sondern auch den Mut, abseits der Wege zu gehen.» Er selbst versteht sich als «pragmatischer Rebell», der als Führungskraft Impulse gibt und seine Mitarbeitenden inspirieren will.
Patrik Meli hat das ETES-Projekt von Anfang an mit Begeisterung unterstützt. Entsprechend hat er im März 2019 an der Fachmesse Energy Storage Europe in Düsseldorf stellvertretend für alle Beteiligten den «Storage Highlight Award» für ETES entgegengenommen, damals noch in seiner Funktion als Head of Compressor Engineering bei MAN ES. Seit September ist er Nachfolger von Hans Gut und treibt entsprechend die Entwicklung der ETES-Technologie voran – und die Vision von MAN ES Schweiz: Mit Lösungen für die Konvertierung regenerativer Energien einen wichtigen Beitrag zur Energiewende zu leisten.
Bernhard Ruetz: Innovativ. Nachhaltig. Erfolgreich.
Zehn Schweizer Unternehmen und ihre Geschichten
Verlag Ars Biographica, Humlikon 2019.
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