PESTALOZZI

Unternehmertum aus Verantwortung

WER PESTALOZZI IST
«Noblesse oblige»: Dieses geflügelte Wort besagt, dass Macht, Einfluss und Tradition mit moralischer Verpflichtung einhergehen. Als der Adelige Pierre-Marc- Gaston de Lévis es 1808 prägt, existiert die Firma Pestalozzi bereits seit 45 Jahren. Deren Inhaber stammen zwar aus dem Zürcher Bürgertum, doch «Adel verpflichtet » könnte im übertragenen Sinn durchaus auch ihr heimlicher Leitspruch sein. Mit über 250 Jahren gehört Pestalozzi zu den ältesten Unternehmen der Schweiz, befindet sich seit den Anfängen in Familienbesitz und wird bis heute von deren Repräsentanten geführt. Speziell ist ausserdem, dass Pestalozzi über alle neun Generationen hinweg in der Eisen- und Stahlhandelsbranche tätig geblieben ist.
Im Jahr 1763 wird die Zürcher Eisenwarenhandlung von Johann Heinrich Wiser erstmals in den Akten erwähnt. Dessen Sohn, Johann David, zieht mit dem kleinen Laden und Lager für Eisenwaren in ein ausgedientes Beinhaus, welches direkt am Fraumünster angebaut ist. Die Lage ist optimal, weil das «Schwalbennest » an den Markt auf dem Münsterhof grenzt und sich in unmittelbarer Nähe zur Limmat, der zentralen Transportroute, befindet. In der vierten Generation kommt mit Rudolf Alexander Pestalozzi-Wiser die Pestalozzi-Linie in den Familienbetrieb. Sein Sohn schreibt über ihn: «Mein Vater ist ein stattlicher, freundlicher Mann.» Er sei von sittlich-religiösen Grundsätzen geleitet, konservativ ohne Engherzigkeit und wahrhaft sozial gesonnen. Dies sind Eigenschaften, die auf die heutigen Inhaber nach wie vor zutreffen, wie Tages-Anzeiger-Journalistin Helene Arnet in einem Artikel aus dem Jahr 2013 konstatiert. Ab den 1870er-Jahren wachsen Umsatz und Personalbestand beträchtlich. Die Bautätigkeit floriert, und Zürich entwickelt sich zur grössten Stadt in der Schweiz. Pestalozzi hat als Lieferant für das Baugewerbe seinen Anteil daran – und hält dabei seine ethischen Grundsätze stets hoch.
Nach und nach erweitern die Pestalozzis ihren Liegenschaftsbesitz am Münsterhof und erwerben in den 1890er-Jahren ein zusätzliches Lagerareal beim Bahnhof Wollishofen am Zürichsee. Eine erneute starke Aufschwungsphase erlebt Pestalozzi und Co. in den Wohlstandsjahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. In dieser Zeit verlegt die Inhaberfamilie ihre Lagerhallen für Eisen- und Stahlwaren sukzessive von Wollishofen nach Dietikon, wo ein grösseres Industrieareal zur Verfügung steht. 1981 wird das Ensemble durch ein Bürogebäude, das Pestalozzihaus, komplettiert. 1988 übernehmen Dietrich Pestalozzi aus der achten Generation sowie Dieter Burckhardt die Mitverantwortung im Unternehmen. Nach dem Zusammenbruch des Kartells der Zürcher Stahlhändler in den 1980er-Jahren wendet sich Pestalozzi vom reinen Massengeschäft mit Stahl ab, diversifiziert und spezialisiert sich in den konjunkturell schwierigen 1990er-Jahren. Das Sortiment wird erweitert und die Fertigungstiefe erhöht, beispielsweise mit der Planung und Herstellung von Bauteilen für Brandschutztüren. Hier bietet das Unternehmen einen integrierten Prozess für die Kunden an und plant die Türen mit CAD. Daraus hat sich ein Alleinstellungsmerkmal entwickelt, Pestalozzi ist auf diesem Gebiet Schweizer Marktführer. Heute amtet Dietrich Pestalozzi als Verwaltungsratspräsident, sein Sohn Matthias als Vertreter der neunten Generation ist CEO. Die Pestalozzi Gruppe ist in den vier Bereichen Stahltechnik, Haustechnik, Gebäudehülle und Transportlogistik aktiv. Sie beliefert rund 6500 Kunden im Baugewerbe und in der Metall verarbeitenden Industrie mit Halb- und Fertigfabrikaten. Gegenwärtig beschäftigt das Familienunternehmen 285 Mitarbeitende.

Unternehmertum ist in der Familie Pestalozzi eine dauerhafte Verpflichtung.

WAS SIE ANTREIBT
Tradition wird in der Familie Pestalozzi von jeher auch als Verpflichtung empfunden. Sorgfältig pflegt sie das Familienstammbuch des Zürcher Bürgergeschlechts bis zum Urvater in Chiavenna und verweist mit Stolz auf die Verwandtschaft zum grossen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi. Ein Sinn für das Familienerbe kann Ruhe und Souveränität vermitteln, so ist Matthias Pestalozzi überzeugt. Ein klassisch-protestantisches Ethos durchzieht bei Pestalozzi den unternehmerischen Alltag, das Auftreten der Inhaber ist reflektiert, zurückhaltend und bescheiden. Zum Credo der Pestalozzis gehört es, Mass zu halten im privaten wie im geschäftlichen Leben, respektvoll und fair zu sein gegenüber den Mitarbeitenden, Geschäftspartnern und Mitbewerbern. Der reformierte Glaube ist für die Familie Pestalozzi nichts, was man anderen aufdrängt – wohl aber eine Grundkonstante, welche die Lebenseinstellung und das Menschenbild bestimmt. Die Familie hatte enge Beziehungen zum Theologen Karl Barth, das Engagement in der Kirchenpflege ist selbstverständlich. Besonders wichtig ist es für Dietrich und Matthias Pestalozzi, Verantwortung wahrzunehmen. Das bedeutet beispielsweise, jedes Jahr Lehrlinge einzustellen und möglichst vielen auch nach dem Lehrabschluss eine Perspektive zu bieten. Seit 30 Jahren verleiht Pestalozzi den sogenannten Pestalozzi Stiftepriis an die besten Lehrabgänger in den Bereichen Metallbau, Haustechnik und Gebäudehülle.

«Mass halten im Privaten wie im Geschäftlichen, respektvoll und fair sein.»

Dietrich Pestalozzi, VR-Präsident

Verantwortung tragen ebenfalls die Bereichsleiter bei Pestalozzi. Ihnen wird viel vertraut und zugemutet, in ihren Händen liegen der gesamte Einkauf, Verkauf, die Lagerlogistik, die Vorfertigung, die Personalführung und das Marketing ihrer Sparte. Für die Pestalozzis heisst Verantwortung aber auch, nicht alle Aufgaben an den Staat abzutreten. Die zunehmende Regulierung im Arbeitsmarkt führt aus ihrer Sicht einerseits zu einer Misstrauenskultur gegenüber den Unternehmen und schadet genau jenen, die sich bereits an die Regeln halten und bei denen Tugenden wie Selbstverantwortung, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit zum unternehmerischen Alltag gehören. Andererseits bedeuten Auflagen und externe Kontrollen oft auch, dass man die Verantwortung an andere Stellen abschiebt, was ethisches Verhalten bei den Mitarbeitenden gerade nicht fördert.

Das Firmenareal der Pestalozzi Gruppe in Dietikon.

WAS SIE ANDERS MACHEN
Unternehmertum ist für die Familie Pestalozzi nicht nur Vehikel zum Geldverdienen, sondern vor allem auch dauerhafte Verpflichtung und die Chance, sich als eigenständiger Familienbetrieb mit einer intakten Mitarbeiterkultur zu bewähren. So führt die Firma Pestalozzi in den 1930er-Jahren als erster Betrieb in Zürich den freien Samstagnachmittag ein und gründet 1932 ihre Pensionskasse – 53 Jahre vor Einführung des Obligatoriums. Auch in den 1990er-Jahren verzichtet das Unternehmen auf das schnelle Geld und setzt lieber auf Konstanz – bei der Frage, ob Pestalozzi an die Börse geht. Die Banken machen mehrere Vorstösse in dieser Richtung. «Doch es hätte unsere Firmenkultur völlig verändert», gibt Dietrich Pestalozzi im Tages-Anzeiger-Beitrag von 2013 zu bedenken und fährt fort: «Wir hätten für die Aktionäre mehr Gewinn rausziehen müssen. Uns wäre Einfluss entzogen worden.»
Dietrich Pestalozzi, dessen Markenzeichen die Fliege ist, hätte statt Unternehmer auch Musiker, Lehrer oder Pfarrer werden können. Den feingeistigen Zug spürt man ihm bis heute an. Er ist kein hemdsärmliger Patron, der seine Freizeit auf der Jagd oder in schnellen Autos verbringt. Stattdessen fährt er Velo und spielt Kontrabass in einem Kammerorchester. Matthias Pestalozzi entzieht sich als studierter Physiker ebenfalls dem gängigen Bild eines Unternehmers. Auch er musiziert, allerdings etwas lauter als der Vater: mit Schlagzeug und Klavier. Das reiche Privatleben mit persönlichen Interessen ist ebenfalls eine Konstante in der Familie Pestalozzi: Dietrichs Vater war Privatpilot, dessen Vater passionierter Fotograf. Und vielleicht, so mutmasst Dietrich Pestalozzi, sorgen die privaten Interessen auch dafür, dass die jeweils ältere Generation leichter loslassen kann, wenn es an den Generationenwechsel geht.

WARUM ES SICH LOHNT
Das Konzept der Verantwortung und Fairness verschafft dem Unternehmen eine hohe Glaubwürdigkeit und einen Vertrauensbonus bei Lieferanten und Kunden. Langfristige und tragfähige Geschäftsbeziehungen stehen für die Pestalozzis im Vordergrund, Verhandlungen führen sie offen und fair: «Wir erwarten, dass Reden und Handeln übereinstimmen; bei uns, aber auch bei anderen.» Diese Ehrlichkeit bewähre sich in Verhandlungen, berichtet Dietrich Pestalozzi und bringt das Beispiel eines Kunden, der im Rahmen eines Vertrags immer weitere Dienstleistungen verlangte. Daraufhin erhöhte der Bereichsleiter die Preise und legte dafür die Kalkulation offen – das überzeugte den Kunden, dem der gute Service auch den höheren Preis wert war. Gleichwohl habe sich generell in den letzten Jahren der Preisdruck im Bau deutlich erhöht. Die Ausschreibungspflicht von Bauaufträgen, der Trend zu Generalunternehmungen sowie die Digitalisierung sorgten dafür, dass auch bewährte Geschäftsbeziehungen häufiger auf dem Prüfstand stünden als früher, so Dietrich Pestalozzi. Doch diese Beschleunigung mit verschärftem Wettbewerb habe Pestalozzi in der 250-jährigen Geschichte bereits des Öfteren und zuweilen vielleicht noch stärker als heute erlebt, relativiert Matthias Pestalozzi. Der Vorzug eines erfolgreichen Traditionsunternehmens bestehe darin, ergänzt Dietrich Pestalozzi, dass Erwartung und Erfahrung in etwa im Gleichgewicht seien. Dies erlaube es, unternehmerische Veränderungen und Neuerungen mit einer gewissen Ruhe und einem Gefühl der Sicherheit anzugehen. Es gibt viele Kunden, welche dies zu schätzen wissen: Mit zunehmender Individualisierung und Beschleunigung steige gerade im Geschäftsleben auch der Bedarf nach Konstanz. Und wer kann diese Beständigkeit besser verkörpern als ein Unternehmen, das seit neun Generationen in Familienbesitz ist?

Bernhard Ruetz: Ethisch. Nachhaltig. Erfolgreich. 
Zehn Schweizer Unternehmen und ihre Geschichten
Verlag Ars Biographica, Humlikon 2018. 
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