Marcel Köppli

Marcel Köppli
Der Luzerner Pfarrer hat die Interessensschwerpunkte Theologie, Wirtschaft und Kunst.

«Der Mensch ist von Gott zum Handeln berufen»

Der Theologe und reformierte Pfarrer Marcel Köppli hat sich intensiv mit dem Thema «Christentum und Marktwirtschaft» beschäftigt, unter anderem in seiner Dissertation über protestantische Unternehmer des 19. Jahrhunderts. Ausserdem hat er an der Universität Zürich Ethik gelehrt und am Boston College (USA) zu religions-soziologischen Fragen geforscht.

Herr Köppli, Sie haben am Beispiel des Basler Seidenbandindustriellen Karl Sarasin erforscht, wie Unternehmer im 19. Jahrhundert ihren protestantischen Glauben gelebt haben: Sie haben sich sozialpatriarchal für ihre Arbeiter eingesetzt und so die Härten der industriellen Revolution entschärft. Wie sah das konkret aus?
Eine Gruppe protestantischer Unternehmer unter Leitung von Karl Sarasin hat damals beobachtet, wie die rasante Industrialisierung der Schweiz zwar zu Wohlstand und Fortschritt geführt hat, aber auch gewisse Bevölkerungsschichten ins Elend geraten sind. Gleichzeitig fürchteten sie einen Verfall christlicher Werte. Sarasin und seine Mitstreiter wollten als Patrons im besten Sinne des Wortes dazu ein Gegengewicht setzen. So hat Sarasin frühzeitig in seinem Betrieb Arbeitszeitbeschränkungen, Mindestalter sowie eine Kranken- und Alterskasse eingeführt. So hat er indirekt die Grundlagen für das erste Basler Fabrikgesetz von 1869 gelegt, notabene gegen seinen Willen. Denn eigentlich wollte er nicht, dass der Staat hier die Rahmenbedingungen setzt. Ausserdem versuchte er, finanziell nachhaltig zu arbeiten, nahm niemals Kredite auf und legte Reserven für schwierige Zeiten an. Auch in Konjunkturkrisen entliess er keine Mitarbeiter, da er diese zu seiner «Betriebsfamilie» zählte. Als Exponent der Basler Politik trieb er verschiedene zukunftsgerichtete Projekte voran, unter anderem den Ausbau der Kanalisation und die Schleifung der Stadtmauern. Seine Vision als erfolgreicher Unternehmer und einflussreicher Politiker war: «Aus einem Nomaden einen sesshaften Bürger, aus einem Proletarier einen eigenen Herrn: aus einem fremd und abhängig sich Fühlenden einen Mann zu machen, der, wenn auch im bescheidenen Masse, sich Mitanteilnehmer an der Erdoberfläche weiss.»

Welche Rolle hat der christliche Glaube bei Sarasins Engagement gespielt?
Als gläubiger Protestant und zentraler Exponent des «Frommen Basels» hat Sarasin sich in der Verantwortung vor Gott gesehen, in seiner Stadt zur Verbesserung der Lebensbedingungen beizutragen, auch für weniger Privilegierte. Seinen wirtschaftlichen Erfolg und sein politisches Gewicht hat er als Verpflichtung wahrgenommen, das zu tun, was in seinen Augen gut und richtig war. Sarasin hat nicht nur als Unternehmer ein gutes Gespür gehabt für neue wirtschaftliche Trends, sondern auch als Politiker für gesellschaftliche Entwicklungen. So hat er Sozialstatistiken gelesen und genau studiert und seine Erkenntnisse an der aufgeschlagenen Bibel gespiegelt. Als «konservativer Erneuerer» hat er sich gekonnt zwischen Konservativen und Progressiven bewegt. Einerseits hat er seine Arbeiter ganz konservativ als seine ihm anvertrauten Kinder angesehen – und das mit der Bibel begründet. Andererseits hat er aber viel Zeit und Geld investiert, damit seine Arbeiter, als seine Brüder, Bildung erlangen und Besitz bekommen können. Und auch das hat er mit der Bibel begründet. Für ihn und seine Mitstreiter hat der Glaube eine Moral vorgegeben, an die man sich im Umgang mit anderen Menschen halten musste. Bei allem Idealismus war Sarasin jedoch kein Sozialromantiker, sondern ein geschickter Pragmatiker und ein nüchterner Realist. Er hat nicht an das Paradies auf Erden geglaubt. Und die Grenzen seines Handelns waren ihm bewusst, besonders auch in seinem politischen Wirken.
Was man kritisch anmerken kann: Die Pa- trons des 19. Jahrhunderts haben die Rechtschaffenheit des Menschen sehr betont und optimistisch daran geglaubt, jeder Mensch könne sein Leben in die eigene Hand nehmen. Wer dazu aber nicht fähig war, mit dem wusste man nichts anzufangen. Dies lässt sich auch heute noch bei gewissen christlichen, vielleicht vor allem protestantischen Gruppierungen beobachten, die den individuellen Erfolg als Anerkennung von Gott verstehen. Da haben gewisse Ausprägungen des Protestantismus gerade auch im Vergleich zur katholischen Soziallehre einen blinden Flecken. In der katholischen Soziallehre wird denn auch die bedingungslose Verantwortlichkeit der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen stärker betont. Das gilt ebenfalls für Kulturen, in denen die Gemeinschaft mehr zählt als das Individuum. Das kann sich ökonomisch allerdings als Hindernis erweisen, weil der Einzelne dann weniger an seine Gestaltungskraft glaubt oder Erfolgreiche sofort in Pflicht genommen werden und sich nicht mehr weiter entfalten können. Das ist ja übrigens auch die berühmte These des Soziologen Max Weber: Dass das protestantische Arbeitsethos und der Glaube an die eigene Verantwortung in vielen Regionen zum Quell wirtschaftlichen Erfolgs geworden sind.

«Als erfolgreicher Unternehmer hat Sarasin sich in der ­Verantwortung vor Gott gesehen.»

Dieser Zusammenhang ist ja in letzter Zeit infrage gestellt worden – wie stehen Sie dazu?
Vielleicht funktioniert er ja in beide Richtungen: Einerseits mag sich der protestantische Christ verstärkt zum Gestalten beauftragt und berufen fühlen. Es spricht aber auch einiges dafür, dass diejenigen Regionen für die Reformation empfänglich waren, in denen bereits einige Menschen lesen konnten, also das Bildungsniveau vergleichsweise höher war. Und Bildung korreliert ja stark mit Wohlstand. Dann hätte also nicht die Reformation zu einem grösseren ökonomischen Erfolg geführt, sondern eine grössere Disposition für Bildung und wirtschaftliche Prosperität hätte dann die Menschen offen gemacht, sich mit dem neuen Gedankengut auseinanderzusetzen. Das geschah nicht nur über die neu ermöglichte Bibellektüre, sondern auch mittels unzähliger reformatorischer Flugschriften, die ja durch den neuen Buchdruck erstmals breiteren Schichten zugänglich wurden.

Zurück zu Karl Sarasin: Können die Patrons von damals uns noch heute als Vorbild dienen?
Ja und Nein. Sarasin ist sehr aktuell mit seiner Idee eines gemeinsamen Wertesystems und einer gemeinsamen Unternehmenskultur, die Vertrauen schafft zwischen Management, Mitarbeitern und weiteren Stakeholdern. Was für mich als Theologe ebenfalls aktuell bleibt: Sarasin hat im Menschen ein Ebenbild Gottes gesehen. Und als dieses hat der Mensch ebenfalls die Bestimmung – wie Gott selbst, der die Welt schuf –, etwas zu entwickeln und zu kreieren. Für Sarasin ist also Gott kein Verhinderer, sondern als erster Schöpfer ein Ermöglicher. Und so ist es auch heute für viele Menschen im Wirtschaftsleben eine Motivation, zur Verbesserung der Welt beizutragen, beispielsweise auch in der viel gescholtenen Pharmaindustrie. Auch in der zunehmend komplexer gewordenen Welt ist es nicht der Markt, der handelt, sondern der einzelne Mensch. Und jeder einzelne Akteur ist gleichsam sein eigener Patron und hat somit eine Verantwortung. Das gilt insbesondere in einer globalisierten Welt, in der die Nationalstaaten zunehmend an Einfluss verlieren. Auch der angestellte Manager eines multinationalen Unternehmens kann sich von dieser Verantwortung nicht freisprechen. Denn: als Gestalter ist er nicht ausschliesslich Sachzwängen ausgeliefert, sondern verfügt immer auch über Handlungsspielraum.
Eine von mehreren Auffassungen, bei denen Sarasin uns nicht mehr als Vorbild dienen kann: Der Gedanke des Patrons beruht auf einer hierarchischen Betriebsfamilie. Dieses pyramidische System ist – glücklicherweise! – veraltet, vor allem in unserer Wissensgesellschaft in ausgereiften Demokratien. Heute sieht sich kein emanzipierter Erwachsener mehr als Kind eines Patrons. Auch hat die Religion durch Säkularisierung und Pluralisierung mittlerweile selbstverständlich nicht mehr dieselbe Bindungskraft wie damals im «Frommen Basel». Gleichwohl sehe ich, dass es durchaus gewisse Unternehmen in der Schweiz gibt, in denen der Patron-Gedanke und die religiöse Solidarität noch gelebt werden, wenn auch sehr diskret und zurückhaltend.

«Auch in der zunehmend komplexer gewordenen Welt ist es nicht der Markt, der handelt, sondern der einzelne Mensch.»

Wie stark hat die christliche Kultur allgemein unser Verständnis von Wirtschaftsethik geprägt – ist auch ein atheistischer Sarasin denkbar?
Die christliche Kultur hat nicht nur unser Verständnis von Wirtschaftsethik geprägt, sondern auch unsere Einstellung zur Wirtschaft als Ganzes. Und das wirkt immer noch nach – auch bei denen, die sich nicht mehr als religiös empfinden. Ganz tief sind wir Menschen hier in der Schweiz von der christlichen Kultur geprägt, beispielsweise in Bezug auf unser Verständnis der Menschenwürde oder auch in der Frage nach unserer Lebensaufgabe. Im christlichen Menschenbild ist der Mensch ein von Gott geschaffenes Geschöpf, berufen, um die Welt zu gestalten, sei es ökonomisch, politisch oder auch künstlerisch. Der Mensch ist sozusagen zum Handeln berufen. Etwas zu gestalten, ist ja für viele Unternehmer auch eine wesentliche Motivation, unabhängig davon, ob sie nun Christen sind oder nicht. Ja, und dann hat das Christentum natürlich unser Verständnis von Wirtschaftsethik stark geprägt. Das wird ihr ja auch regelmässig vorgeworfen: Diese Ethik frage – auch wegen ihrer christlichen Prägung - primär, was die richtige Gesinnung und Motivation sei, und vergesse dabei, utilitaristisch nach den Auswirkungen des Handelns zu fragen. Für mich ist also ein atheistischer Sarasin durchaus vorstellbar. Denn auch er wäre Teil einer christlich geprägten Gesellschaft, deren Werte, so meine Überzeugung, viel stärker nachwirken, als vielen heutigen Menschen bewusst ist. Deshalb ist für mich ein sogenannt «christlicher Unternehmer » auch nicht per se ein moralisch besserer Mensch. Er ist möglicherweise durch die christliche Gemeinschaft Teil eines Netzwerkes und ist deshalb erfolgreicher – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Kann das Christentum heute noch etwas beitragen zu ökonomischen Fragen, zum Beispiel in Bezug auf Globalisierung und Digitalisierung?
Wenn ich nicht diese Überzeugung hätte, wäre ich wohl nicht Pfarrer geworden – und auch nicht geblieben. In der aktuellen Umbruchsituation mit rasanter Globalisierung und Digitalisierung hat uns der christliche Glaube sehr wohl etwas zu sagen, nämlich das: Wenn wir als Menschen dazu berufen sind, die Welt zu gestalten, dann müssen wir die technologischen Entwicklungen nicht abwürgen und auch nicht Angst davor haben, sondern dürfen darauf vertrauen, dass wir die Fähigkeiten haben, gute Lösungen zu finden. Lösungen, die dazu beitragen, dass es den Menschen weltweit besser geht und wir auch wieder besser im Einklang mit den anderen Lebewesen und im Bewusstsein um unsere beschränkten Ressourcen leben können – ohne gleich das Paradies auf Erden herstellen zu wollen.

Bernhard Ruetz: Ethisch. Nachhaltig. Erfolgreich. 
Zehn Schweizer Unternehmen und ihre Geschichten
Verlag Ars Biographica, Humlikon 2018. 
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